Doña Quijote und die Windmühlen
des
Lichts
Die Nacht der Befreiten
16:00 Uhr.
Die Siesta ist vorüber. Esperanza drückt die knarrende Holztür auf und tritt in das Büro der Sociedad Española contra la Contaminación Lumínica – der Spanischen Vereinigung gegen Lichtverschmutzung – deren Gründerin, Geschäftsführerin und Mädchen für alles sie ist. Diese Bastion des Kampfes liegt zwischen einem Tattoo-Studio und einem veganen Café.
Sie lässt sich in den wackeligen Drehstuhl fallen. An den Fensterscheiben kleben ihre handgeschriebenen Texte wie Apaga una luz, enciende una estrella – lösche ein Licht, entzünde einen Stern.
An den Wänden blättert die Farbe. Und in ihrem Herzen die Hoffnung. Seit fünfzehn Jahren kämpft sie in einer Stadt, die niemals schläft. Mit bescheidenem Erfolg. Ihre Website? 47 Aufrufe im letzten Jahr. Ihr letzter Online-Vortrag? Drei waren dabei. Zwei wach, einer schlafend.
16:37 Uhr.
Esperanza tritt zur Kaffeemaschine und schaut auf die Strasse hinaus. Erste Neonlichter beginnen zu flackern. Das übliche Abendritual nimmt seinen Anfang. Madrid rüstet sich für eine weitere gnadenlos helle Nacht.
16:39 Uhr.
Die Kaffeemaschine stottert prustend. Die Glühbirne über dem Schreibtisch zuckt. Einmal. Zweimal. Mit einem leisen Plopp erlischt sie. Esperanza seufzt und tastet nach ihrer Taschenlampe. „Schon wieder die Sicherung", murmelt sie.
Als sie aufblickt, stutzt sie. Auch die Strassenlaterne vor dem Fenster ist aus. Die grelle Neonreklame des Tattoo-Studios: dunkel. Das LED-Display der Bank: schwarz. Ihr Herz beginnt zu rasen. Das ist mehr als eine kaputte Sicherung. Sie schaltet das alte Radio ein, dreht nervös am Regler. Rauschen. Fetzen von Stimmen: „...kompletter Stromausfall..." „...Millionen von Menschen..." Die Stimme verstummt.
Esperanzas Hände zittern. Sie reisst das Fenster auf und lehnt sich hinaus. Über der Stadt, wo normalerweise ein orangefarbener Lichtschleier die Sicht trübt, funkeln Sterne. Echte Sterne! Die Milchstrasse zieht sich wie ein silbernes Band über den Himmel. Tränen steigen in ihre Augen. Das ist er. Der Himmel, für den sie kämpft. Der Himmel ihrer Kindheit in den Bergen Asturiens. Glücksgefühle durchströmen sie.
20:38 Uhr.
Polter! Polter! Polter! Fäuste hämmern gegen die Bürotür. Esperanza zuckt zusammen. Stimmen dringen ins Innere: „Aufmachen! Wir wissen, dass Sie da sind!"
Sie öffnet zögernd. Vor ihr drängt sich eine Gruppe verzweifelter Menschen.
„Machen Sie das Licht sofort wieder an!", kreischt eine junge Frau und wedelt mit ihrem toten iPhone. „Ich war gerade dabei, meinen Instagram-Post hochzuladen! Drei Stunden Arbeit für das perfekte Foto. Und jetzt ist alles hin!"
Ein Mann im zerknitterten Anzug drängt sich vor: „Meine Präsentation ist morgen früh! Ohne PowerPoint bin ich ruiniert! Verstehen Sie? Ru-i-niert!"
„Die Werbetafel von unserem Restaurant ist dunkel", jammert ein Mann mit Kochschürze. „Ohne unser Neonschild finden die Kunden uns nie! Wir gehen bankrott!"
21:18 Uhr.
Die Menschenmenge wird grösser. Eine Teenagerin mit weit aufgerissenen Augen steht vor ihr: „Es ist so dunkel! So tot! Ich halte das nicht aus! Wo ist das Licht?"
Eine Mutter zerrt drei Kinder hinter sich her: „Die Kleinen haben Angst! Es ist ein Alptraum!"
Ein älterer Herr hält sein nicht mehr funktionierendes Tablet hoch: „Meine Nachrichten! Meine E-Mails! Wie soll ich wissen, was auf der Welt passiert? Ich bin verloren!"
Esperanza stammelt: „Ich bin nicht zuständig für Stromausfälle, wenn ich auch für weniger Licht kämp..."
„Sie sind doch von der Lichtbehörde!", unterbricht sie ein junger Mann, dessen Gesicht matt im Licht des Displays schimmert. „Sie müssen das reparieren! Sofort!"
21:34 Uhr.
Immer mehr Menschen strömen herbei. Ein Uber-Fahrer fuchtelt mit seinem Handy: „Mein GPS funktioniert nicht! Wie soll ich arbeiten? Wie soll ich überhaupt wissen, wo ich bin?"
Eine Influencerin mit perfekt gestylter Frisur: „Ich habe 500.000 Follower! Die warten auf meinen Nachtpost! Das ist eine Katastrophe! Meine Reichweite bricht zusammen! Meine Karriere ist vorbei!"
Ein Youtuber brüllt entnervt: „Mein Equipment! Meine Softboxen! Ohne Strom ist alles umsonst!"
Ein Banker: „Die Börse! Wie soll ich handeln ohne meine drei Monitore? Jede Minute kostet mich Tausende!"
Esperanza versucht sich zu erklären, aber niemand hört zu. Die Menge wird unruhiger, aggressiver.
„Das ist eine Katastrophe!", brüllt jemand aus der Menge. „Wie sollen wir leben ohne Licht? Licht ist ein Menschenrecht!"
22:13 Uhr.
Esperanza schafft es gerade noch, sich in ihr Büro zu retten und die Tür zu verriegeln. Draussen hämmern Fäuste gegen das Türe und Fenster. Die Scheiben zittern unter den Schlägen.
„Licht! Wir brauchen Licht! Sofort!", schreien die Stimmen im Chor. „Reparieren Sie das! Machen Sie Ihre Arbeit!"
Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Tür und atmet schwer. Der Schweiss perlt auf ihrer Stirn. Fünfzehn Jahre hat sie gegen diese Lichtflut gekämpft. Aber dass die Abhängigkeit so tief sitzt? Menschen, die vor Panik weinen, weil ihr Bildschirme dunkel sind?
20:45 Uhr.
Esperanza zündet eine Kerze an. Im flackernden Licht betrachtet sie die Ordner voller ignorierter Petitionen, Zeitungsartikel, die niemand gelesen hat. Dokumente ihre jahrelangen Kampfes gegen Windmühlen.
Aber heute... wird heute ihr Traum wahr? Wieso auch immer.
Die Faustschläge verstummen allmählich. Schritte entfernen sich. Irgendwo in der Ferne hört sie noch vereinzelte Rufe: „Das ist alles deine Schuld!"
23:14 Uhr.
Esperanza schleicht durch den Hinterausgang ins Freie. Die Gassen von Malasaña sind gespenstisch leer. Nur vereinzelt huschen Gestalten im Schein von Taschenlampen vorbei. Auf der Suche nach funktionierenden Handyladestationen, offenen Geschäften, Strom.
Sie geht ziellos durch die dunklen Strassen. Diese sind ungewöhnlich leer – ohne funktionierende Ampeln fahren die wenigen Autos im Schrittverkehr. Madrid wirkt friedlicher.
Dann hört sie Lachen. Fröhliches Lachen. Aus der Richtung des Retiro-Parks kommt es. Wie ist das möglich? Jedermann scheint in Panik zu sein, und dort... dort wird gelacht?
00:31 Uhr.
Sie folgt den Stimmen. Sie durchquert die dunklen Alleen des Parks, vorbei an den stummen Wasserfontänen, den leeren Cafés. Im Herzen des Parks, auf der grossen Wiese nahe des Kristallpalastes, entdeckt sie sie. Eine surreale Versammlung im Mondenschein.
Ein alter Mann blickt durch sein Teleskop. Er wendet den Blick ab und den Menschen zu. Aufgeregt zeigt er gen Himmel: „Seht ihr das!", spricht er aufgeregt. „Der Orionnebel! Nach Jahrzehnten kann man ihn endlich wieder sehen!"
Neben ihm liegt eine Frau mittleren Alters im Gras, die Augen geschlossen, ein seliges Lächeln auf den Lippen: „Meine Migräne ist weg. Einfach weg. Zum ersten Mal seit Monaten kann ich denken, ohne dass es in meinem Schädel hämmert."
00:55 Uhr.
Die Schar der Versammelten wird immer grösser. Ein kleiner Junge zeigt seiner staunenden Schwester die Milchstrasse: „Schau, Lisa! Da oben wohnen Sternen-Feen!"
Eine Eule landet auf einem nahen Ast. „Hu hu", ruft sie triumphierend in die Dunkelheit. „Hu hu hu", antwortet eine andere aus der Ferne. Dann noch eine, und noch eine, und noch eine. Bald huhut ein ganzer Eulen-Chor.
„Hört ihr das?", flüstert eine ältere Dame mit Tränen in den Augen. „Die Eulen sprechen wieder miteinander! Ich habe das seit Jahren nicht mehr gehört! Ich dachte, sie wären alle weggeflogen."
Ein Bursche mit Baseball-Cap sitzt mit geschlossenen Augen an einen Baum gelehnt: „Normalerweise kann ich nie abschalten. Immer blinkt, piept, leuchtet etwas. In meinem Kopf, ein wahres Neon-Gewitter. Aber jetzt... jetzt ist es endlich still -- Aaah, tut das gut."
01:18 Uhr.
Fledermäuse tanzen über die Köpfe, schwarze Silhouetten im Sternenhimmel. Eine sagt: „Endlich können wir wieder richtig jagen! Keine grellen Farben mehr, die uns verwirren!"
Ein Krankenpfleger reckt die Arme in den Sternenhimmel. „Ich arbeite nachts in einem Krankenhaus. Stets umgeben von Neonlicht. Brennende Augen gehören da zum Alltag. Aber heute... heute entspannen sie sich wieder."
Nachtfalter flattern zwischen den Menschen umher, landen vertrauensvoll auf ausgestreckten Händen. Einer flüstert: „Normalerweise verbrennen wir uns an euren Lampen."
Es ist schon nach 01:30 Uhr.
Ein Igel tapst mutig über die Wiese. Die Kinder kichern und zeigen aufgeregt auf ihn. „Das sind die nachtaktive Tiere. Sie warten, bis unsere grelle Welt verstummt", flüstert eine Mutter.
Menschen und Tiere, vereint im magischen Dunkel.
Ein alter Dichter mit zerzausten Haaren steht auf, erhebt die heisere Stimme: „Hört mich an! Zwanzig Jahre habe ich versucht, über die Nacht zu schreiben, aber die Worte kamen nicht. Die Lichter haben sie vertrieben. Heute habe ich sie wieder gefunden: Schwärze, Sternenglanz, Eulenruf, Schweigen."
01:59 Uhr.
Esperanza gesellt sich zur bunten Schar „Ich bin Esperanza", sagt sie. „Ich führe die Sociedad Española contra la Contaminación Lumínica. Seit einer gefühlten halben Ewigkeit kämpfe ich mit meinen Wegbegleitern gegen das uns quälende Licht."
Spontaner Applaus bricht aus. Die Fledermäuse kreischen vor Freude. Die Eulen rufen. Sogar die Grillen zirpen lauter: „Du bist unsere Heldin!"
„Aber, den Stromausfall habe ich nicht verursacht", sagt Esperanza lachend.
„Das spielt keine Rolle", antwortet die Migränegeplagte und öffnet die Augen: „Du hast nie aufgegeben zu Hoffen. Du hast uns gezeigt, dass es auch anders geht. Du warst unsere Stimme der Dunkelheit. Du bist unsere Doña Quijote!" Alle klatschen.
03:12 Uhr.
Esperanzas Geschichte macht bei den Feiernden die Runde. Auch beim Nachtschwärmer, der jahrelang Tabletten gegen Lichtempfindlichkeit schlucken musste und endlich ohne Schmerzen draussen sein kann. Und der lichtgeplagten Schlaflosen, welche endlich wieder träumt.
Eine alte Dame erzählt mit brüchiger Stimme: „Als ich klein war, gingen wir jeden Abend auf den Balkon und zählten Sterne. Mein Vater kannte alle Sternbilder. Aber heutzutage" -- sie seufzt -- „schön wäre es. Aber heute Nacht... heute Nacht ist es wie damals in meiner Kindheit."
03:40 Uhr.
Esperanza schaut um sich. Der Igel atmet ruhig und vertrauensvoll. Über ihr kreisen Fledermäuse wie schwarze Engel.
Man ist sich einig. So sollte jede Nacht sein.
Ein kleines Mädchen tuschelt mit seiner Mutter: „Können wir morgen wieder hierher kommen und Sterne gucken?"
04:07 Uhr.
Ein tiefes Summen in der Ferne. Dann – ein Flackern am Horizont. Erste Lichter gehen wieder an, kleine helle Punkte in der Schwärze.
Die Versammelten werden unruhig. Die Tiere heben die Köpfe, spüren, da bahnt sich etwas an.
„Es ist vorbei", sagt jemand mit unendlicher Trauer in der Stimme.
04:09 Uhr.
Licht explodiert über Madrid wie eine grelle Bombe. Strassenlaternen erwachen mit aggressivem Weiss, Reklametafeln blinken gnadenlos, Bürotürme erstrahlen in kaltem Neon. Die grelle Realität erobert die Stadt zurück.
Als erste verschwinden die Tiere. Die Fledermäuse rauschen erschrocken in die Bäume, der Igel erschrickt und trippelt hastig ins Gebüsch. Die Eulen verstummen abrupt.
Die Menschen stehen langsam auf, wie Träumende, die unsanft geweckt werden.
In der Ferne hört man die Jubelschreie der Lichtjunkies. „Das Licht ist zurück! Instagram funktioniert wieder! Gott sei Dank!"